Mein Familienkompass by Imlau Nora

Autor:Imlau, Nora [Imlau, Nora]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fach-/Sachbuch
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2020-08-30T22:00:00+00:00

Einfach ehrlich sein

Um unseren Kindern gute Eltern zu sein, schlüpfen wir oft in eine Rolle. Um die Jahrtausendwende kündigten etwa viele Eltern mit der strengen Super Nanny aus dem Fernsehen als Vorbild in ernstem Ton klare Konsequenzen bei Regelverstößen an und bemühten sich nach Kräften, sich bei deren Umsetzung nicht erweichen zu lassen. Sämtliche Gefühle, die nicht zu dieser Rolle passten, galt es zu verbergen. Heute ist eine der beliebtesten Eltern-Rollen die der sanften, liebevollen, geduldigen Eltern, die niemals schimpfen und immer für alles Verständnis haben. Inspiriert von Familien auf Instagram, die es anscheinend genauso machen und die immer sehr glücklich wirken, versuchen Eltern, diesem Ideal nachzustreben. Und unterdrücken oft dabei mit aller Kraft sämtliche menschlichen Regungen, die nicht zu dieser selbst gewählten Rolle passen. Die Folge ist oft, dass sich all der weggeschobene Frust, all die ganz und gar nicht sanften Anschuldigungen und heruntergeschluckten Vorwürfe im eigenen Inneren sammeln wie in einem gigantischen Pulverfass – und irgendwann in einer Riesen-Explosion herausbrechen, unmittelbar gefolgt von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen. »Heute war ich eine richtige Arschloch-Kack-Scheiß-Mama«, schrieb mir eine Mutter einmal nach einem solchen Ausbruch. »Ich habe alle meine Ideale verraten und nur noch geschrien und getobt. Es war furchtbar! Manchmal frage ich mich, ob meine Kinder besser dran wären mit einer Mutter, die schimpft und straft, als mit einer, die alles besser machen will – und dann immer wieder so ausrastet.« Aus vielen Gesprächen mit anderen Eltern, und nicht zuletzt aus meinen eigenen Erfahrungen, weiß ich: Sich und den eigenen Weg so existenziell in Frage zu stellen, ist gerade unter Eltern, die es besonders gut machen wollen – besonders sanft, besonders liebevoll, absolut gewaltfrei – weit verbreitet. Stellen wir uns also der unbequemen Frage: Kann es wirklich sein, dass wir unseren Kindern mit all unseren Versuchen, besonders achtsam und respektvoll mit ihnen umzugehen, manchmal mehr schaden als nützen, weil wir es schlicht nicht durchhalten können?

Tatsächlich lässt sich nicht leugnen, das solche Total-Ausraster wie der, den mir die verzweifelte Mutter beschrieb, für Kinder ungemein belastend sind. Und es ist tatsächlich nachgewiesen, dass es selbst Kindern, die sehr streng und autoritär erzogen werden, emotional besser geht als denen, deren Eltern dauerhaft unberechenbar zwischen freundlicher Zugewandtheit und wutschnaubender Härte hin und her springen, sodass ihre Kinder niemals wissen, woran sie sind. Das ist auch logisch: Kinder sehnen sich zuallererst nach Sicherheit, und Sicherheit erwächst aus Verlässlichkeit. Wenn meine Eltern sehr rigide Regeln festlegen und diese mit unnachgiebiger Konsequenz durchsetzen, mag sich das für mich als Kind einengend und gemein anfühlen; doch ich weiß zumindest, woran ich bin. Schwanken meine Eltern hingegen ohne einen für mich irgendwie nachvollziehbaren Grund zwischen lächelnder Großzügigkeit und plötzlichen Wutausbrüchen, suche ich als Kind die Schuld für diese ständigen Stimmungsschwankungen bei mir – und stehe unter Dauerstress, weil ich versuche, mir meine Eltern gewogen zu halten, ohne es jemals schaffen zu können.

Kinder brauchen also zuallererst Verlässlichkeit. Und die können wir ihnen nicht geben, solange wir eine Rolle spielen. Abgesehen davon ist zu schauspielern unglaublich anstrengend. So anstrengend, dass es kein Mensch dauerhaft durchhalten kann.

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